Starkregenkatastrophe NRW und RLP: Erste Ergebnisse der Expertenkommission – die 15 wichtigsten Erkenntnisse aus dem Einsatzverlauf Zur Bewältigung von Katastrophen wie nach dem Starkregen in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen müssen die organisatorischen Strukturen in Deutschland künftig deutlich modifiziert werden. Auch muss das Führungssystem und dessen Ausstattung aktualisiert und internationalen Standards angepasst werden. Das sind zwei der ersten Ergebnisse der mehr als 60-köpfigen Expertenkommission „Starkregen“, die von der Vereinigung zur Förderung des Deutschen Brandschutzes (vfdb) in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Feuerwehrverband (DFV) mit der Aufarbeitung des Gesamteinsatzes im Sommer beauftragt wurde. Der Expertenkommission gehören neben Angehörigen von Feuerwehren, Technischem Hilfswerk, Bundeswehr, Polizei, Behörden und Hilfsorganisationen wie dem Deutschen Roten Kreuz und den Johannitern auch Wissenschaftler verschiedener Hochschulen an. In einer ersten Zusammenfassung haben die Kommissionsmitglieder 15 wichtige Punkte als Erkenntnisse aus dem Einsatzverlauf aufgelistet.
„Die Problematik zieht sich, wie die ersten Untersuchungen ergeben, quer durch alle Organisationen und über alle administrativen Ebenen hinweg“, sagt Dr. Ulrich Cimolino, Vorsitzender der Kommission und Branddirektor in Düsseldorf. „Eine detaillierte Umfrage unter allen Einsatzkräften gibt uns schon jetzt erste wertvolle Erkenntnisse.“ Fast 2.500 Helferinnen und Helfer haben an der Erhebung teilgenommen, mit deren Hilfe Schwachstellen analysiert und Verbesserungspotenzial identifiziert werden soll. „Eine weitere wichtige Erkenntnis: 90 Prozent der Einsatzkräfte kommen aus dem Ehrenamt“, berichtet Cimolino. „Obwohl Ausmaß und Komplexität solcher Lage nicht zum ersten Mal aufgetreten sind, waren es für die einzelnen Einsatzkräfte meistens unbekannte Ereignisse, die sie nur sehr selten – oder nie – erleben“, so Cimolino weiter. „Auch deshalb sind solche Ereignisse auch nur selten Gegenstand von Einsatzplanung und Ausbildung. Das aber hat sich jetzt als Fehler erwiesen.“ Laut Umfrage der Expertenkommission hatten rund zwei Drittel der Einsatzkräfte eine derartige Großschadenslage noch nie erlebt. Wer jedoch schon Erfahrungen mit ähnlichen Katastrophen hatte, bemängelte in der Befragung, dass es seit dem letzten Ereignis für die Einsatzkräfte keine durchgängige Verbesserung der Schwachstellen gegeben habe. Als vermutete Gründe wurden mangelnde Mittel und mangelndes Interesse der Politik angegeben. „Das Interesse ist nur temporär vorhanden und nach kurzer Zeit wieder in der Versenkung verschwunden“, lautete ein Argument. Schlechte Noten bekamen bei den Einsatzkräften auch die Kommunikationsmittel und -möglichkeiten. Eine eher negative Rolle spielte dabei auch das oft nach kurzer Zeit und dann mitunter für viele Stunden oder mehrere Tage ausgefallene Digitalfunknetz der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS). Ebenso wurden eine mangelnde Geländegängigkeit mit nicht ausreichender Wasser-Durchfahrtsfähigkeit sowie teils unzureichende Motorisierung von Einsatzfahrzeugen auch des Katastrophenschutzes bemängelt. Dazu kommen immer mehr Probleme mit fehlender Wartungsfreundlichkeit und mangelnder Robustheit insbesondere moderner Fahrgestelle. Kritik gibt es auch am Einsatz der Hubschrauber. Dabei geht es unter anderem um die Verfügbarkeit, Leistungs- und Multirollenfähigkeit. Sowohl bei den Hubschraubern als auch bei den im Schnitt gut bewährten Drohnen müsse es nach Einschätzung der Aktiven Verbesserungen geben. Neben den zahlreichen Schwachstellen bei dem Einsatz werden aber auch positive Aspekte genannt. Dazu gehört unter anderem die unkomplizierte und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den unterschiedlichsten Hilfsorganisationen und vor allem mit den vielen privaten Helfern und Anwohnern. Allerdings müsse die Einbindung privater Helfer und Firmen noch deutlich optimiert werden. „Wir werden die Ergebnisse und Erfahrungen in den kommenden Wochen und Monaten sorgfältig auswerten und die detaillierten Ergebnisse im kommenden Jahr präsentieren“, sagt vfdb-Präsident Dirk Aschenbrenner. „Deutlich wird schon jetzt, dass viele Erkenntnisse nicht neu sind. Die Lehren der Vergangenheit wurden nur nicht oder zu wenig umgesetzt.“ Für ein echtes „Lessons Learnt“ gelte es, tragfähige Strukturen zu bilden und zu leben“, so Aschenbrenner. DFV-Präsident Karl-Heinz Banse sieht in der Arbeit der Expertenkommission eine wertvolle Unterstützung und Entscheidungsgrundlage auch für Entscheidungen in der Politik. „Wir haben die Fachleute in unseren Reihen, wir haben das Know-how – leider fehlt neben den technischen Mitteln häufig auch die politische Unterstützung. Sie darf nicht immer erst kommen, wenn etwas passiert ist“, so Banse. Erste Ergebnisse aus der Befragung von Einsatzkräften Fast 2.500 Einsatzkräfte haben die rund 60 Fragen zu ihren Erfahrungen, Problemen und Verbesserungsvorschlägen im Zusammenhang mit der Starkregenkatastrophe beantwortet. Die Auswertung zeigt, dass viele Erfahrungen nicht neu sind – die Lehren und Erkenntnisse wurden nur nicht oder nur unzureichend umgesetzt. Die ausführlichen Ergebnisse werden zur Jahresfachtagung der vfdb in Würzburg im Mai und zur INTERSCHUTZ/29. Deutscher Feuerwehrtag in Hannover im Juni 2022 erwartet. Für die zweite Jahreshälfte 2022 ist außerdem ein Buch zum Umgang mit dynamischen Schadenslagen am Beispiel der Starkregenlage aus dem Juli 2021 geplant. Hier die 15 „Big Points“: 1. 90 Prozent der Einsatzkräfte kamen aus dem Ehrenamt Das unterstreicht die Bedeutung ehrenamtlicher Strukturen für eine schnelle, flächendeckende und tief reichende Gefahrenabwehr in Deutschland und stellt die Bedeutung der Ehrenamtsförderung deutlich heraus.2. Das Führungssystem und die Führungsausstattung (insbesondere oberhalb der Ebene „Zug“) im operativen Bereich sind zu aktualisieren und internationalen Standards anzupassen.3. Ein Führungssystem im administrativen Bereich ist bis auf die Gemeindeebene zu etablieren (vgl. Nordrhein-Westfalen).4. Führung verlangt auf allen Ebenen ausreichend viel gut ausgebildetes und trainiertes Personal (auch im Hinblick auf Schichtfähigkeit).5. Die Einbindung und Steuerung von Spontanhelfern als auch privater Ressourcen ist zu realisieren und im Vorfeld zu planen und zu üben.6. Die technische Kommunikation ist zu härten und es sind Redundanzen zu schaffen. Sie ist dem Kommunikationsbedarf in Quantität (z.B. Datenvolumen) und Qualität (z.B. Messengerdienste) anzupassen.7. Die Medienarbeit ist – insbesondere für Feuerwehren und Hilfsorganisationen – zu optimieren.8. Die Fahrzeug- und Gerätetechnik ist zu erwartenden Schadenslagen (Überflutungen aber auch Waldbrand etc.) anzupassen, insbesondere in puncto: – Bessere Robustheit – Bessere Geländegängigkeit, -fähigkeit sowie Wat- bzw. Wasserdurchfahrtsfähigkeit – Bessere und mehr Boote und Wasserrettungskomponenten – Schmutzwasserpumpen – Geeignetere und mehr Persönliche Schutzausrüstung, etc.9. Die Versorgungs- und Durchhaltefähigkeit ist zu stärken, und die Konzepte zur Etablierung entsprechender Strukturen im Einsatzraum sind anzupassen.10. Der Einsatz von Luftfahrzeugen (inkl. Drohnen) ist einheitlich zu regeln und auszubilden. Es sind leistungsfähige Zivilschutzhubschrauber in ausreichender Anzahl zu beschaffen und vorzuhalten. Die Kostenfrage ist aufgrund häufig organisations- und bundeslandübergreifender Einsätze einheitlich zu klären.11. Die Ausbildung in der Abwehr dynamischer Lagen ist insbesondere für Führungskräfte zu verbessern. Einsatzkräfte sind intensiver auf spezifische Lagen (Wassergefahren, Waldbrand etc.) zu trainieren.12. Der Umgang mit Spenden muss konzeptionell geregelt und frühzeitig kommuniziert werden13. Die Brandschutz-/Rettungsdienstbedarfsplanung ist auf eine allgemeine Gefahrenabwehrbedarfsplanung zu erweitern.14. Tragfähige Strukturen für ein echtes „Lessons Learnt“ sind zu bilden und zu leben.15. Erkannte Forschungs- und Innovationsbedarfe sind in zukünftigen Förderprogrammen zu berücksichtigen. Silvia Oestreicher Wolfgang Duveneck |